Kunstwerk des Monats September

Medardo Rosso, Ecce Puer, 1906, Hilti Art Foundation

Medardo Rosso

* 1858 in Turin, † 1928 in Mailand, Italien


Ecce Puer, 1906


Bronze

44,8 x 37,3 x 36,5 cm

Hilti Art Foundation

 

Medardo Rosso schuf Ecce Puer nach einem Auftrag, den er von Emile Mond erhalten hatte, dem Mitglied einer wohlhabenden britischen Industriellenfamilie. Dieser wünschte sich ein Portrait seines damals sechsjährigen Sohnes Alfred William. In einer Londoner Ausstellung im Dezember 1906 trug das Werk noch den Titel Portrait de l'enfant Mond: impression. Seit 1910 nannte Rosso es Ecce Puer (lat.: Sieh da, ein Knabe!). Das bedeutet, dass das Werk in Rossos eigener Rezeption eine Wandlung vom konkreten Portrait zur allgemein menschlichen Erscheinung eines Kindes vollzogen hat.

Laut einer überlieferten Erzählung soll das Kind im Hause Mond hinter einem Vorhang gestanden und eine Abendgesellschaft beobachtet haben. Rosso habe diesen Eindruck dann spontan fixiert. Etha Fles, eine Sammlerin seiner Werke, berichtet stattdessen, das Kind habe in der halb geöffneten Tür des Gästezimmers gestanden und dem Künstler bei seinem Tun zugeschaut, woraufhin Rosso dies als eine vision de pureté dans un monde banal bezeichnet und festgehalten habe. Wie auch immer man diese Erzählungen einschätzen mag, Rosso hat mit Ecce Puer ein Werk von hohem ästhetischen und inhaltlichen Rang geschaffen. Vermutlich war es sein letztes Werk überhaupt, da Rosso seit 1906 keine nachweislich neuen Themen mehr erfand.

Der besondere Stellenwert von Kinderdarstellungen im Œuvre Rossos bekundet sich auch in Ecce Puer, hier aber in geradezu monumentaler Form. Trotz ihrem flüchtigen Charakter, der nahezu allen Werken Rossos eignet, scheint sie eine Präsenz zu beanspruchen, in der das Sein des Kindes feinsinnig erfasst ist. Die von den prägenden Erfahrungen des Lebens noch weitgehend unberührte Physiognomie des Gesichtes gibt sich nicht in präzisen Ausformulierungen, sondern in sanften Andeutungen zu erkennen. Sie erzeugen den Eindruck einer tief im kindlichen Wesen begründeten und zart geborgenen Existenz, aus welcher der Knabe jedoch bald schon herauswachsen wird. So umgibt ihn zugleich eine Aura der Melancholie. Für die Dauer eines Augenblicks stellte sich die vision de pureté dans un monde banal ein, und Rosso war der Meister dieses Augenblicks.

 

Uwe Wieczorek

<b>Medardo Rosso, Ecce Puer, 1906, Hilti Art Foundation</b>
Das Kunstmuseum Liechtenstein stellt jeden Monat ein Werk aus der eigenen Sammlung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch werden regelmässig Werke aus der Sammlung der Hilti Art Foundation auf diese Weise vorgestellt.