Kunstwerk des Monats Februar

Yves Tanguy, Titre inconnu (noyer indifférent), 1929, Hilti Art Foundation

Yves Tanguy

* 1900 in Paris, Frankreich, † 1955 in Woodbury, Connecticut, USA


Titre inconnu (noyer indifférent), 1929


Öl auf Leinwand
92,2 × 73,2 cm
Hilti Art Foundation, Schaan

 

Das in Yves Tanguys surrealistischer Frühphase entstandene Werk Titre inconnu weist rätselhaft unvertraute Gestalten auf, die gleichermassen am Beginn einer naturgeschichtlichen Schöpfung wie am Ende einer zivilisationsgeschichtlichen Katastrophe stehen könnten. Es sind zwar greifbar plastische, ebenso anorganisch wie organisch anmutende, letztlich aber unidentifizierbare Gestalten, die in den Tiefen der Meere, den Weiten der Wüsten oder den Unendlichkeiten des Alls zu existieren scheinen. Die vier grössten von ihnen gruppieren sich, von unsichtbarer Quelle hell beleuchtet und daher Schlagschatten werfend, um ein fiedrig zartes Nebelgebilde, das, wie sie selbst, über dunklem Grund steht, auf dessen reliefhafter Oberfläche fahlweisse Horizontalstreifen erscheinen, die sich schliesslich in einem nachtschwarzen, unermesslich tiefen Raum verlieren. Der Betrachter blickt auf eine befremdlich menschenferne, gleichwohl irritierend real wirkende Welt im Prozess des Werdens oder Vergehens unter den Bedingungen des uranfänglichen Gegensatzes von Licht und Finsternis. Vergleichbare Inszenierungen sind nicht nur bei Max Ernst (z. B. Der Nordpol, 1922), sondern auch schon in den Werken von Hieronymus Bosch und, wie Reinhold Hohl aufgezeigt hat, anderen niederländischen Meistern des frühen 16. Jahrhunderts nachweisbar.

Der Schweizer Psychiater C. G. Jung, der das Gemälde bereits im Jahr seiner Entstehung erworben hatte, widmete ihm in der 1958 erschienenen Publikation Ein moderner Mythus – Von Dingen, die am Himmel gesehen werden besondere Aufmerksamkeit. Er brachte es darin nicht nur mit den Begriffen von Öde, Kälte und Lebensferne sowie mit kosmischer Unmenschlichkeit und endloser Verlassenheit in Verbindung, sondern sah in ihm auch ein Beispiel dafür, dass zeitgenössische Kunst durch den Verlust von Schönheit und Sinn den Menschen auf sich selbst als betrachtendes Subjekt zurückwerfe. Das aber kann, wenn, wie im Falle von Titre inconnu, kein Sinnangebot gemacht wird, zu Assoziationen und Reaktionen führen, die erhellende Auskunft über die dunkle Welt des Unbewussten geben – ganz im Sinne des Surrealismus.

Uwe Wieczorek

 

«Yves Tanguy, der Maler grausig-eleganter Gebilde in der Luft, in den Tiefen der Erde und der Meere, […] mein liebenswerter Freund.»

André Breton

<b>Yves Tanguy, Titre inconnu (noyer indifférent), 1929, Hilti Art Foundation</b>
Das Kunstmuseum Liechtenstein stellt jeden Monat ein Werk aus der eigenen Sammlung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch werden regelmässig Werke aus der Sammlung der Hilti Art Foundation auf diese Weise vorgestellt.