Kunstwerk des Monats November

Gerhard Hoehme, Gequollenes Blatt, 1962

Gerhard Hoehme

* 1920 in Greppin bei Dessau, † 1989 in Neuss, Deutschland


Gequollenes Blatt, 1962


Öl, Tusche und Bleistift auf Karton auf Leinwand
100 × 65 cm

Contemporary Art Foundation

Bleistift- und Tuschelinien auf einer tragenden Schicht von Ölfarbe vermitteln einen Eindruck von Bewegung, Rhythmus und möglicherweise auch Tanz. Sie sind Spuren des Malprozesses, der Gesten des deutschen Informel-Künstlers Gerhard Hoehme. Gemeint ist mit Informel eine künstlerische Haltung, die den Vertretern verschiedener abstrakter Strömungen der 1950er-Jahre gemeinsam ist. Sie wenden sich von der dominierenden geometrischen Abstraktion ab und komponieren nicht mehr auf ein zuvor geplantes Ergebnis hin, sondern lassen in ihren Bildern dynamische Vorgänge sichtbar werden.

Stellenweise scheint der ockerfarbene Bildgrund durch: Es zeigt sich das gequollene Blatt, welches auf eine Leinwand aufgezogen wurde. Der Kontrast zwischen dem warmen Untergrundton und dem kalten Grau in wechselnder Dunkelheit verstärkt die durch den schichtenweisen Farbauftrag entstehende Raumwirkung. Sie kommt ganz ohne perspektivische Illusion aus. Immer wieder hat sich Hoehme in seinem Schaffen mit der Thematik des Bildraums auseinandergesetzt. Dabei ist er laut eigener Aussage von seinen Jahren als Jagdflieger während des 2. Weltkriegs entscheidend beeinflusst worden. Durch den Blick aus der Distanz auf die Landschaft schärfte sich einerseits seine Wahrnehmung von Strukturen, andererseits prägte ihn das spezifische Raumerleben, bei dem der Horizont und damit schliesslich auch die Perspektive ihre Bedeutung verlieren.

Im Zentrum von Hoehmes Schaffen steht zudem das Ausloten der Farbe und ihrer Gesetzmässigkeiten: Er untersucht «ihr Strömen und Wachsen, ihre Materie und Struktur», wie sich auch in diesem Werk am unterschiedlichen Umgang mit verschiedenen Malmitteln zeigt. Farben sind für ihn Energien, Signale, Zeitmomente, Stellenwerte, aber auch Löschungen. Ähnlich breitgefächert ist sein Verständnis des Sehens, das für ihn wesentlich eine Komponente des Sich-in-Beziehung-Setzens enthält. Für Hoehme ist das eigentliche Bild jenes, das entsteht, wenn der Betrachter sich in Relation zum Werk setzt und dessen Wirkung auf sein Bewusstsein und Empfinden erfährt.

Marion Malin

<b>Gerhard Hoehme, Gequollenes Blatt, 1962</b>
Das Kunstmuseum Liechtenstein stellt jeden Monat ein Werk aus der eigenen Sammlung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch werden regelmässig Werke aus der Sammlung der Hilti Art Foundation auf diese Weise vorgestellt.