Kunstwerk des Monats Februar

Medardo Rosso, Bambino ebreo, 1892, Hilti Art Foundation

Medardo Rosso

* 1858 in Turin, † 1928 in Mailand, Italien


Bambino ebreo, 1892


Wachs über Gips

22 x 14,6 x 16,5 cm
Hilti Art Foundation

Kinderdarstellungen haben im Gesamtwerk Medardo Rossos einen wichtigen Stellenwert – vom Kleinkind an der Mutterbrust bis zum Mädchen oder Knaben, deren junges Leben noch alle Möglichkeiten des Wachstums und der Entfaltung in sich birgt. Dabei war der Künstler, nicht nur bei Kindern und jungen Menschen, ein genauer Beobachter. Meist fokussierte er auf den Kopf der von ihm dargestellten Personen. Vor allem aber konzentrierte er sich auf den kurzen Moment des ersten Eindrucks, der gleichsam einen Moment der visuellen Überraschung enthält, welcher dem intellektuellen Impuls des Erkennenwollens unmittelbar vorausgeht.

Rosso, der von der zeitgenössischen Kunstkritik als «wahrer Impressionist der Plastik» beurteilt wurde, erlebte diesen Moment des ersten Eindrucks wie ein Maler, denn der eine entscheidende Blick auf den Menschen, der im Werk eingefangen ist, verbiete es, dieses Werk von mehreren Seiten anzuschauen. Damit verabschiedete sich der Künstler von der spätestens seit dem 16. Jahrhundert gültigen Idee, dass eine Plastik oder Skulptur von allen Seiten gleich schön zu sein habe. Auch Bambino ebreo (Jüdisches Kind) bietet keine Rundum-Ansicht. Die linke wie auch die hintere Seite des Köpfchens sind ‹unvollendet›. Eine von Rosso selbst gemachte Fotogra e des Bambino ebreo zeigt allein dessen rechte Gesichtshälfte.

Circa fünfzig Ausführungen dieses von Rosso sehr geschätzten und häufig verschenkten Werkes gibt es, und zwar in Wachs über stabilisierendem Gipskern, sowie in Bronze. Die Gesichtszüge des Kindes haben zwar alle die gleiche Physiognomie, doch in verschiedenen, sowohl guss- als auch materialbedingten Ausprägungen und Färbungen, so dass jedes Werk letztlich singulär ist. Ob es den 1888 geborenen Oscar Ruben Rothschild darstellt, dessen Familie Rosso kannte und auch in einem Brief erwähnte, bleibt unbewiesen. Dennoch scheint das Gesicht des Kindes individuelle, fast melancholische Züge zu tragen, die sensibel und, ganz dem zarten Lebensalter angemessen, schmelzweich in Wachs materialisiert sind. Medardo Rosso schuf das hier vorliegende Köpfchen in Paris, wo er seit 1889 lebte.

Uwe Wieczorek

<b>Medardo Rosso, Bambino ebreo, 1892, Hilti Art Foundation</b>
Das Kunstmuseum Liechtenstein stellt jeden Monat ein Werk aus der eigenen Sammlung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch werden regelmässig Werke aus der Sammlung der Hilti Art Foundation auf diese Weise vorgestellt.