Kunstwerk des Monats April

Latifa Echakhch, Derives 60, 2015

Latifa Echakhch

* 1974 in El Khnansa, Marokko


Derives 60, 2015


Aus der 2009 begonnenen Serie Derives Acryl auf Leinwand
200 × 150 cm

Erworben mit Mitteln der «Stiftung Freunde des Kunstmuseum Liechtenstein» Das Werk Latifa Echakhchs greift weit in unterschiedliche Richtungen aus, thematisiert Fragen der kulturellen Identität, untersucht Authentizität, befragt Autorschaft und ist voller Aneignungen, Anleihen und Anspielungen, durch die sich die Arbeit in Zeit und Raum präzise lokalisieren lässt.

2009 malte die Künstlerin die ersten Gemälde einer Serie mit dem Titel Derives. Die Pariser Situationisten um Guy Debord verstanden unter dem Begriff dérive das ziellose Umherschweifen im Stadtraum. Die Serie entsteht fortlaufend in Etappen, als work in progress im Atelier. Mehrere Leinwände gleichen Formats werden jeweils aufgereiht, um als eine einzige Fläche von der Künstlerin bearbeitet zu werden. Die letzte Leinwand der Reihe bildet den Ausgangspunkt für die Fortführung des malerischen Prozesses zu einem späteren Zeitpunkt, wobei die Serie von rechts nach links weitergeführt wird. Das dialogische Prinzip der Arbeit wird als randabfallendes Liniennetz sichtbar, das alle Gemälde der Serie, deren Anzahl theoretisch unbegrenzt wäre, mit- und untereinander verbinden wird. Das geometrische, rein lineare Muster in schwarzer Farbe folgt einem klassischen islamischen Ornament, das in Architektur und Kunsthandwerk Anwendung findet.

Das geometrisch konstruierte Ornament basiert auf einem 16-strahligen Stern und kann durch Spiegelsymmetrie in alle Richtungen unendlich erweitert werden. Latifa Echakhch hält sich allerdings nicht an die Konstruktionsregeln, sondern arbeitet mit irregulären Formen. Die Linien entwickeln auf der Malfläche ein Eigenleben analog zur ziellosen Erkundung der Stadt im Situationismus. Anstelle des überlieferten Ornaments, das von Leinwand zu Leinwand kopiert werden könnte, entstehen verwandte, aber dennoch individuelle Muster, die sich nie wiederholen. Jedes Gemälde ist künstlerisch ein autonomes Werk und zugleich in seiner jeweiligen Form das Fragment einer in sich kohärenten, vielteiligen Arbeit. Die im Ornament überlieferte kulturelle Ordnung wird im bildnerischen Prozess aufgehoben und mit jedem weiteren Gemälde transformiert, ohne sich je wieder zu einer neuen Ordnung zu verfestigen.

Roman Kurzmeyer

<b>Latifa Echakhch, Derives 60, 2015</b>
Das Kunstmuseum Liechtenstein stellt jeden Monat ein Werk aus der eigenen Sammlung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch werden regelmässig Werke aus der Sammlung der Hilti Art Foundation auf diese Weise vorgestellt.