Kunstwerk des Monats Januar

Karl Schmidt-Rottluff, Die Lesende, 1911, Hilti Art Foundation

Karl Schmidt-Rottluff

1884 in Rottluff/Chemnitz, Deutschland – 1976 Berlin, Deutschland


Die Lesende, 1911


Öl auf Leinwand
77 × 85 cm
Hilti Art Foundation, Schaan

 

Die Lesende zählt zu den frühen grossformatigen Figurenbildern im Œuvre Schmidt-Rottluffs, wichtiger Vertreter des Expressionismus und Gründungsmitglied der Künstlergruppe Brücke. Grosszügig und monumental ist die junge Frau ins Bild gesetzt. Die extreme Nahsicht, recht eigentlich ein fotografisches Mittel, erreicht Schmidt-Rottluff, indem er die Figur anschneidet und eng in das rechteckige Bildfeld spannt. Die wohl auf einem Sofa liegende Frau ist ganz auf ihre Lektüre konzentriert und nimmt keinen Kontakt zum Betrachter auf. Sie bewahrt, bei aller Nähe und Lässigkeit, Distanz. Die gesenkten Augen richten sich auf das Buch, das sie mit ihren feingliederigen, pflanzengleichen Händen hält. Hier verdichtet sich das Bildgeschehen. Die Formen werden vielgestaltiger und kleinteiliger, während das Bild insgesamt grossflächig angelegt ist. Die farbigen Flächen stossen meist nicht unmittelbar aneinander, sondern sind durch einen andersfarbigen Kontur voneinander getrennt. Er übernimmt die Funktion einer lapidaren Vorzeichnung – ein Verfahren, das Schmidt-Rottluff vom Holzschnitt abgeleitet hat, der für ihn immer von besonderem Interesse war. Die auf den ersten Blick so klare Farbigkeit, die auf subtilen Kombinationen von Grundierung und Übermalung wie Grün über Gelb oder Petrol über Rot basiert, gibt dem Bild eine innere Leuchtkraft. Sie gipfelt in den gelben und roten Parteien, die der gelassenen Ruhe der Lesenden einen Moment geistiger Anspannung und Erregung entgegensetzen.

Auffallend ist der maskenhafte Charakter des Gesichts der jungen Frau mit dem schmal zulaufenden Kinn und den gewölbten Lippen, die an die westafrikanische Stammeskunst erinnern, etwa an die Skulpturen der Fang. Die Lesende ist ein gutes Beispiel für den Primitivismus, für die Auseinandersetzung der Brücke-Künstler mit der Kunst Ozeaniens und Afrikas, die mit den Besuchen im Dresdner Museum für Völkerkunde ihren Anfang nahm.

Angela Schneider

 

«[…] von mir weiss ich, dass ich kein Programm habe, nur die unerklärliche Sehnsucht, das zu fassen was ich sehe und fühle, und dafür den reinsten Ausdruck zu finden.»

Karl Schmidt-Rottluff

Zitiert nach Karl Brix, in: Karl Schmidt-Rottluff. Der Maler, Magdalena M. Moeller und Hans-Werner Schmidt (Hg.), Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1992, S. 257–258.

<b>Karl Schmidt-Rottluff, Die Lesende, 1911, Hilti Art Foundation</b>
Das Kunstmuseum Liechtenstein stellt jeden Monat ein Werk aus der eigenen Sammlung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Auch werden regelmässig Werke aus der Sammlung der Hilti Art Foundation auf diese Weise vorgestellt.