Bill Bollinger gehörte Ende der 1960er-Jahre zu den wichtigsten Bildhauern seiner Zeit und wurde in einem Atemzug mit Bruce Nauman, Robert Smithson, Eva Hesse und Richard Serra genannt, bevor er ab Mitte der 1970er-Jahre in Vergessenheit geriet und nicht länger im internationalen Kunstbetrieb präsent war. Die Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein ist die erste Retrospektive zum Werk des früh verstorbenen Künstlers, das es in seiner Komplexität, Radikalität und Intensität neu zu entdecken gilt. Gleichzeitig versteht sich diese Präsentation als Beitrag zur aktuellen Aufarbeitung vergessener künstlerischer Positionen.
Mit dieser gross angelegten Werkübersicht präsentiert das Kunstmuseum Liechtenstein über 30 Skulpturen und an die 100 Arbeiten auf Papier erstmals einer breiten Öffentlichkeit. Zahlreiches, unbekanntes Dokumentationsmaterial vermittelt zudem einen vertieften Einblick in das überraschende Werk. Zusammen mit der anlässlich der Ausstellung erscheinenden Publikation ist diese Retrospektive das Ergebnis einer mehrjährigen Recherchearbeit. Eine Anzahl der gezeigten Werke wurde, basierend auf historischen Dokumenten, wieder aufgetauchten Installationsanweisungen Bollingers und Aussagen von Zeitzeugen, speziell für diese Ausstellung rekonstruiert.
Charakteristisch für Bollingers künstlerisches Werk ist sein feinfühliger Umgang mit einfachsten, industriell gefertigten Materialien. Aluminiumrohre, Seile, Gummischläuche, Maschendraht, Lampen oder Schubkarren setzt er radikal, direkt und mit leichter Eleganz ein. Bollinger, der nach einem Studium der Luftfahrttechnik an der renommierten Brown University sich mit Malerei beschäftigt und eine künstlerische Laufbahn einschlägt, schafft Ende der 1960er -Jahre, als Menschen erstmals auf dem Mond landen, Skulpturen, die die Schwerkraft, die Balance und die spezifischen Eigenschaften unterschiedlichster Materialien einbeziehen. Fasziniert vom gekrümmten Raum, der Vertikalen und dem Horizont, sind für Bollinger der Kosmos und das Wasser zentral. Es entstehen flüchtige, puristische und energiegeladene Arbeiten, die uns in ihrer Radikalität heute noch erstaunen lassen.
Seine tiefgründigen Interessen werden, angeregt durch die Überfahrt auf einem Frachtschiff 1968 von New York nach Europa, bei der Bollinger den Atlantik als leicht gewölbte, scheinbar plane Fläche mit gestochen scharfem Horizont wahrnahm, noch einmal verdichtet. Es entstehen Werke, in denen Wasser eine wichtige Rolle spielt: transparente Plastikschläuche, gefüllt mit Wasser, gelegt als Linie, als Kreis oder als verzweigtes Verteilersystem. Gummischläuche halten die Wasseroberfläche auf gleichem Niveau; bei einem Werk verbinden sie sieben lackierte Fässer zu einer ornamental, floral erscheinenden Skulptur.
Diese erste, umfassende Werkschau, kuratiert von Christiane Meyer-Stoll in konzeptueller Zusammenarbeit mit Rolf Ricke, ist eine Produktion des Kunstmuseum Liechtenstein in Kooperation mit dem ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, wo sie im Anschluss zu sehen sein wird, und The Fruitmarket Gallery, Edinburgh.